Politische Bildung vs. Civic Education: Ein genauerer Blick auf die gegenseitigen Lernchancen

Katja Greeson
23 min readMar 10, 2021

Übersetzt aus dem englischsprachigen Originalartikel, den Sie hier finden.

Nach dem Angriff auf die amerikanische Demokratie am 6. Januar hat Außenminister Heiko Maaß den USA seine Unterstützung angeboten: “Wir sind bereit, mit den USA an einem gemeinsamen Marshallplan für die Demokratie zu arbeiten. Die Spaltung in unseren Ländern bei den Wurzeln zu packen, ist eine der größten Aufgaben für die USA und Europa.”

Obwohl Kritiker schnell den “Oberlehrer“ getönter Kommentar (Schulte, 2021) bemühten, ist sein Aufruf zur Zusammenarbeit wohlbegründet. Denn das verschwörungstheoriebeladene, polarisierte, rechtspopulistische politische Umfeld hinterlässt auch in Deutschland tiefe Spuren. Infolgedessen sind die Rufe nach einer Stärkung der politischen Bildung lauter geworden[1], was einige in den USA als “Sputnik-Moment” für die politische Bildung bezeichnen — in Erinnerung daran, wie die Spannungen des Kalten Krieges den Weg für Reinvestitionen in die STEM-Bildung ebneten. Eine transatlantische Neuverpflichtung zur Demokratie erfordert den Austausch zwischen einer der Säulen, die sie stärken sollen: der politischen Bildung. Ähnliche Herausforderungen und Ziele, kombiniert mit sehr unterschiedlichen Ökosystemen für politisches Lernen, bieten die Chance für einen fruchtbaren deutsch-amerikanischen Austausch in diesem Bereich.

Ein neues Projekt, das im Jahr 2021 startet, ebnet den Weg dafür. Der Transatlantic Exchange of Civic Educators (TECE), der in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e.V. (AdB) und dem Tisch College of Civic Life an der Tufts University durchgeführt wird, legt den Grundstein für diesen Schwerpunkt. Das einjährige Pilotprojekt wird 20 deutsche und US-amerikanische Fachkräfte für außerschulische politische Bildung zusammenbringen, um über gemeinsame Herausforderungen zu reflektieren, von den jeweiligen Ansätzen zu lernen und entscheidende Innovationen im Bereich des “Civic Learning“ durch Peer-Learning-Seminare, Site-visits und den Austausch mit relevanten Experten aus Wissenschaft und Praxis zu fördern. Das Projekt wird einen Beitrag zum Diskurs über deutsch-amerikanische politische Bildung und Jugendarbeit leisten, besonders aktuell angesichts der ersten Investitionen in ein deutsch-amerikanisches Jugendwerk.[2]

Als US-amerikanischer Gaststipendiatin des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten (AdB) habe ich im vergangenen Jahr diese beiden einzigartigen Ansätze der politischen Bildung und die potenziellen Möglichkeiten für gegenseitiges Lernen untersucht. Obwohl es unmöglich ist, auf ein paar Seiten ein vollständiges Bild zu zeichnen, stelle ich hier einige erste Beobachtungen an, was ein amerikanisch-deutscher Austausch in der außerschulischen politischen Jugendbildung durch die Linse von fünf grundlegenden Fragen, mit denen das Feld konfrontiert ist, bieten könnte.

Wer ist am besten geeignet, qualitativ hochwertige politische Bildung zu vermitteln?

Einer der auffälligsten Unterschiede beim Vergleich von politischer Bildung in Deutschland und den USA ist die Rolle des Staates in der politischen Bildung. In Deutschland ist das einzigartige Feld der außerschulischen politischen Jugendbildung gesetzlich kodifiziert und gut etabliert und fällt unter das breitere Feld der Jugendarbeit in Deutschland. In den USA sieht eine weniger klar definierte und dezentralisierte Jugendpolitik, die zwischen den einzelnen Bundesstaaten und lokalen Ebenen stark variiert, Civic Learning weitgehend als Fußnote, wenn überhaupt. Ein Fokus auf “leadership” und “youth voice” und entpolitisierte Formen der Bürgerbeteiligung wie Freiwilligenarbeit und Service Learning wird häufiger genannt als offene politische/”civic” Bildung. Und obwohl die Aufmerksamkeit für “positive youth development” zunimmt, ist die Jugendpolitik im Allgemeinen immer noch eher defizit- oder problemorientiert als eine auf Stärken basierende Jugendarbeit (Ferber et al., 2005). Im Vergleich zu dem mit viel Herzblut finanzierten System in Deutschland ist die staatliche Finanzierung von politischer Bildung in den USA im letzten Jahrzehnt deutlich zurückgegangen. Schätzungen zufolge gibt die US-regierung derzeit gerade einmal 5 Millionen Dollar für politische Bildung aus (Sawchuk, 2020), die sich auf die Schulen konzentrieren. Außerschulische Akteure der politischen Bildung konkurrieren in einem engen Markt um private Spenden und Stiftungsgelder, der es neuen und kleineren Organisationen oft schwer macht, sich zu behaupten.

Im Vergleich dazu macht das schiere Ausmaß der öffentlichen Unterstützung in Deutschland den Staat zu einer mächtigen Kraft und er hat eine wichtige Rolle zu spielen. Aber der Grad der Institutionalisierung wirft auch Fragen über deren Implikationen auf: Geht ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit für zivilgesellschaftliche Akteure verloren, wenn der Staat zum primären “Anbieter” wird?; inwieweit haben unabhängige Träger Zugang zur Gestaltung der Politik und der Finanzierungsstrukturen, die letztlich einen Großteil der Arbeit, die sie leisten können, prägen?; ist das Feld “zu abhängig” von dieser verlässlichen Quelle der Unterstützung? Wenn es das Ziel ist, Bürger heranzuziehen, die selbst aktiv an der Mitgestaltung des demokratischen Raums mitwirken, ist es dann nicht wichtig, dass dies im Akt der Bildung selbst sichtbar wird, was eine substanziellere Rolle der Zivilgesellschaft bei der Politikgestaltung und programmatischen Ausrichtung impliziert?

Ein zweiter wichtiger Unterschied ist das Gleichgewicht zwischen formaler und außerschulische Bildung in der politischen Bildung. In den USA geht der Fokus auf die Schulen als primärem Ort für politische Bildung auf die Absicht der “Founding Fathers” zurück, dass das öffentliche Schulsystem die Schüler auf die Staatsbürgerschaft vorbereiten sollte (Crittenden & Levine, 2018), und wird weitgehend als Institution mit einer entscheidenden Rolle bei der Entwicklung junger Menschen und ihrer Ideologien akzeptiert (Beaumont & Battisoni, 2006; Llewellyn et al., 2010; Nugent, 2006) und als diejenige, die am ehesten alle jungen Menschen erreicht (Kahne & Westheimer, 2003; Matto & Vercellotti, 2012; Carnegie Corporation of New York and CIRCLE, 2003, p.5). Ein öffentlich gefördertes Feld der außerschulischen politischen Bildung, in dem Jugendarbeit und außerschulische Bildung im Mittelpunkt stehen, wie es in Deutschland der Fall ist, ist nicht zu finden. Sicherlich gibt es Möglichkeiten des “civic learning“ außerhalb der formalen Bildung in außerschulischen Aktivitäten, religiösen Einrichtungen, Gemeindeorganisationen, Museen, Bibliotheken usw., aber oft ist das politische Element eher ein Nebenprodukt als ein primäres Ziel, und so fehlt es an Koordination und Anerkennung ihrer Beiträge zur politischen Jugendentwicklung. Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es explizit politische Gruppen und eine Betonung des “civic engagement”, mit Möglichkeiten zur Beteiligung durch politische Parteien und “issue advocacy”.

Viele bürgerschaftlich orientierte Organisationen, sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene, bieten direkte Dienstleistungen an oder arbeiten eng mit Lehrer*innen und Schulen zusammen, um Ressourcen und Schulungen bereitzustellen und Programme zu skalieren und/oder sich für bestimmte Maßnahmen einzusetzen, wie z. B. die Aufnahme von projektbasierter politischen Bildung in die Lehrpläne. Diese Angebote sind jedoch bei weitem nicht in allen Gemeinden und Schulen Standard.“Civic Deserts”, definiert als Gemeinden ohne Möglichkeiten für bürgerschaftliches Engagement (Matthew et al., 2017) und “Civic Disjuncture”, bei der die täglichen Erfahrungen junger Menschen aus unterversorgten Gemeinden mit dem, was sie durch politische Bildung lernen, in Konflikt geraten, weil diese auf die Erfahrungen weißer Schüler*innen aus der Mittelschicht zugeschnitten ist (Rubin, 2007; Levinson, 2010; Generation Citizen, n.d.), sind weit verbreitet.

Auf Politische Bildung orientierte NGOs arbeiten oft ausschließlich in Schulen, und in letzter Zeit hat die Politik verstärkt darauf geachtet, diese Partnerschaften auszuweiten.[3] Trotz der zunehmenden Anerkennung der Rolle, die “Community Organizations” zu spielen haben, gibt es weniger klare Leitprinzipien und weit weniger Fokus auf diesen Sektor der politischen Bildung als ein Feld an und für sich, wie es bei der außerschulischen politischen Bildung der Fall ist. Es ist eindeutig wertvoll, die Vorteile, Ziele und Methoden jedes Sektors in Kooperationen mit Schulen klar darzustellen, um gleichberechtigtere und effektivere Partnerschaften zwischen schulischen und außerschulischen Institutionen zu schaffen, aber diese starren Bildungssilos können auch zu Lasten der Qualität der Angebote gehen. Es ist wichtig, bessere Mechanismen zu entwickeln, um zu verhindern, dass institutionelle Strukturen Barrieren für die Zusammenarbeit aufbauen, und es kann fruchtbar sein, zu erforschen, wie genau dies in der Praxis vor dem Hintergrund der verschiedenen Systeme aussieht.

Die klare Antwort auf die gestellte Frage ist, dass keine einzelne Institution oder kein einzelner Sektor die Verantwortung für die politische Bildung übernehmen kann. Wir können nicht erwarten, dass Schulen die gesamte Aufgabe der Vorbereitung junger Menschen auf die Chancen und Verantwortlichkeiten der Bürgerschaft übernehmen, genauso wie wir nicht erwarten können, dass wir alle jungen Menschen durch freiwillige, außerschulische Bildung zuverlässig erreichen. Darüber hinaus sind andere Bereiche, wie die digitale Welt, von entscheidender Bedeutung für die politische Entwicklung junger Menschen, von denen wir nur wenig wissen. Ein ganzheitlicher, sektorübergreifender Ansatz zur politischen Bildung ist eine Möglichkeit, Fragen der Chancengleichheit beim Zugang zu qualitativ hochwertigen politischen Lernangeboten auszugleichen. Da die nicht-formale Bildung mit sinkenden Teilnahmequoten und einem Rückzug von Partnerschaften als Folge von COVID-19 konfrontiert ist, ist eine verstärkte sektorübergreifende Zusammenarbeit umso wichtiger. Eine Neuausrichtung dieser Frage mit Blick auf übergreifende Ziele würde besser helfen, die einzigartigen Rollen zu verstehen und auszurichten, die alle Akteure/Sektoren in diesem Prozess spielen können.

Welche Ansätze sind am besten geeignet, um junge Menschen für “21st-Century-Citizenship” vorzubereiten?

Angesichts eines sich wandelnden Medienumfelds, Angriffen auf demokratische Systeme und Werte, zunehmend diverser und hoch individualisierter Gesellschaften und sich verändernder politischer Partizipationsgewohnheiten ist die politische Bildung gefordert, sich wiederholt ihres raison d´être zu vergewissern, diesen neu zu bewerten und wieder zu erfinden. Narrative wie die Motivation apathischer und individualisierter Bürger*innen zu größerer Partizipation haben an Boden verloren, seit wir eine steigende Wahlbeteiligung und soziale politische Bewegungen beobachten. Praktiken der deliberativen Demokratie durch Simulationen der Gesetzgebung müssen überdacht (oder eher ergänzt) werden in einer Zeit, in der der Durchschnittsbürger*in eher dazu neigt, Themen in den sozialen Medien aus der Sicherheit seines Smartphones heraus zu “diskutieren”. Zunehmende internationale Vernetzung und globale Herausforderungen wie der Klimawandel und die COVID-19-Pandemie zwingen dazu, neu zu überdenken, welche Themen die politische Bildung ansprechen sollte und auf welche “Identität” sie hinwirken soll. Beim Blick nach vorne auf neue Methoden und Denkansätze ist es hilfreich, auch einen Seitenblick auf die Stärken der jeweiligen nationalen Ansätze zu werfen, von denen zwei besonders hervorstechen: handlungsorientierte politische Bildung und historisch-politische Bildung.

Sowohl in Deutschland als auch in den USA besteht wenig Uneinigkeit darüber, dass politische Bildung junge Menschen auf eine aktive Bürgerschaft vorbereiten sollte, und empirische Belege sowie zahlreiche philosophische Denkrichtungen weisen darauf hin, dass Erfahrungsbasiertes Lernen für effektives politisches Lernen von entscheidender Bedeutung ist. Dieses Handeln nimmt typischerweise eine von zwei Formen an: soziales Handeln in Form von z.B. ehrenamtliche Arbeit (klassisch im Diskurs um Sozialkapital wiedergespiegelt) und politisches Handeln, das ein Verhalten bezeichnet, das explizit politischer Natur ist. Diese partizipationsorientierten Ansätze werden in den USA betont, wo “Civic Education” und “Civic Engagement”[4] enger miteinander verwoben sind. Ansätze wie “Service Learning”, “Action Civics”[5], “Civic Youth Work”[6] und “Youth Organizing”[7] existieren an der Schnittstelle von “(positive) youth development(ein Subtyp der Jugendarbeit, der sich auf die Stärken der Jugendlichen konzentriert und nicht auf einen defizitorientierten Ansatz) und “Civic Education/Engagement”. Obwohl nicht völlig unumstritten, ist in den USA eine stärkere Betonung der Partizipation als Ziel und Methode der politischen Bildung zu erkennen, eng ergänzt durch einen stärkeren Fokus auf Aktivitäten des Bürgerbeteiligung wie Jugendwahlhelfer*innen und ehrenamtliche Arbeit. Sicherlich sind diese Praktiken nicht allen jungen Menschen zugänglich, da es oft von der Verfügbarkeit von kommunalen Unterstützungsstrukturen und deren Organisiertheit abhängt, die oft besser geeignet sind, diese Arbeit durchzuführen. Dennoch haben jüngste Bemühungen, einen stärker handlungsorientierten Ansatz in Politik und Lehrplänen einzuführen, mit einem Schwerpunkt auf Partnerschaften mit kommunalen Strukturen, Fortschritte gemacht. Action Civics zum Beispiel wurde 2017 als “Proven Practice” in der Civic Education als spezielle Form des projektbasierten Lernens angenommen, und die Gesetzgebung auf Landes- und Bundesebene, wie der Educating for American Democracy Act, der Ende 2020 in das US-Repräsentantenhaus eingebracht wurde, beinhaltet die Finanzierung von Community-Organisationen, eine bescheidene Anerkennung der Rolle, die außerschulische Institutionen in diesem Bereich zu spielen haben. Obwohl in der deutschen politischen Bildung nicht fremd, sind diese Ansätze weniger verbreitet. Oft wird Demokratiebildung mit dem Fokus auf Demokratie als Bildungsstruktur und Erfahrung getrennt von politischer Bildung mit einem stärkeren Fokus auf Demokratie als Gegenstand gesehen, was für Praktiker*innen und in der Forschung künstliche Barrieren schafft. Dies ändert sich jedoch, da die Verantwortlichen in diesem Bereich versuchen, diese Barriere abzubauen, zum Beispiel im 16. Kinder- und Jugendbericht (2020, S. 128). Eine relativ späte Ankunft der Politik und der Praxis des bürgerschaftlichen Engagements ab Mitte/Ende der 90er Jahre (Haus, 2011) und ein kürzerer Rekurs auf Deweys Philosophie der Demokratie als Lebensform[8] sind für diese vergleichsweise stärkere Abgrenzung ebenso verantwortlich wie die anhaltende Kontroverse über die Rolle des politischen Handelns als Methode der politischen Bildung, wobei das Überwältigungsverbot im Beutelsbacher Konsens als Grund für die Skepsis genannt wird (Pohl, 2019).

Historisch-politische Bildung ist ein spezifischer Schwerpunkt der deutschen politischen Bildungsarbeit, die in den Nachkriegsjahren als ein Weg entstand, über den Nationalsozialismus und den Holocaust zu lehren, nicht nur mit Fakten und Zahlen, sondern indem die Lernenden aufgefordert werden, tief zu reflektieren und Verbindungen zwischen historischen Ereignissen und der eigenen gegenwärtigen Realität herzustellen. In dem Maße, in dem die USA ihre Aufmerksamkeit auf lange schlummernde Gespräche über strukturellen Rassismus und weiße Vorherrschaft richten, ist die Bedeutung der historischen Perspektive und der Erinnerungsarbeit stärker in den Fokus gerückt. Die Diskussionen um “Racial Equity” und Diskriminierung, die durch die Black-Lives-Matter-Proteste im Sommer 2020 eine neue Stimme erhielten, sind in beiden Ländern fester Bestandteil des Diskurses zur politischen Bildung und haben ein neues Interesse daran geweckt, wie politische Bildung eine gerechtere, tolerantere und vielfältigere Gesellschaft unterstützen kann. Ein Großteil dieser Diskussion beruht auf einer längst überfälligen Abrechnung mit einer schwierigen Geschichte weißer Vorherrschaft und institutionalisierter Diskriminierung, die sich von einer politischen Bildung und einem Geschichtsunterricht wegbewegt, der in vielen Bereichen patriotische Observanz gegenüber den Problemen des Landes gefördert hat.[9] Aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen in Deutschland ist die Verankerung der Werte Pluralismus und Toleranz von besonderer Bedeutung, und die Investition in historisch-politische Bildung und Erinnerungsarbeit ist damit ein Schlüsselelement der politischen Bildung — ein Ansatz zum Umgang mit einer komplexen Geschichte, von dem die USA lernen können. Da historische Sites wie ehemalige Plantagen gerade erst damit beginnen, Bildung zur Sklaverei als Teil der Programmgestaltung aufzunehmen (Knowles, 2019), sollten wir von der Bildungsarbeit lernen, die in Deutschland zum Beispiel in KZ-Gedenkstätten und in Form von Workcamps geleistet wird. Allerdings hat auch Deutschland mit anhaltendem Rassismus und Diskriminierung und seiner eigenen Täterschaft in der kolonialen Geschichte zu kämpfen, und in beiden Ländern kann mehr getan werden, um die Möglichkeiten der politischen Bildung insgesamt gerechter zu gestalten, was eine gemeinsame Diskussion umso konstruktiver macht.

Politische und soziale Polarisierung, Digitalisierung, Rechtsextremismus, Globalisierung, immer vielfältigere Gesellschaften und die Bedrohung durch den Klimawandel sind die wiederkehrende Realität des 21. Jahrhunderts. Indem wir die breite Vielfalt an Ansätzen, die politische Bildung beinhalten kann, tiefer betrachten, müssen wir die Anforderungen, die diese Transformationen heute und in Zukunft an die Bürger*in stellen, neu analysieren. Ist es wichtiger, aus erster Hand zu lernen, wie man soziales Kapital aufbaut, indem man eine kommunale Lebensmittelbank organisiert, oder die Ursachen der Ernährungsunsicherheit zu verstehen; oder ist es vielleicht notwendig, die politische Macht zu nutzen, indem man sich für eine Politik einsetzt, die diese Ursachen von vornherein bekämpft? Ist es notwendig, dass junge Menschen diese Fähigkeiten zunächst im “Safe Space” eines Seminarraums oder einer Planspiel üben, oder erfordert die Entwicklung von Handlungsfähigkeit, in der “realen Welt” aktiv zu werden? Und bedeutet die zunehmende Popularität von Bewegungen wie Black Lives Matter, dass politische Bildung die Praxis und Theorie sozialer Bewegungen beinhalten sollte? Diese und viele andere Fragen stehen zur Debatte, aber es ist klar, dass die Befähigung junger Menschen mit den erforderlichen Fähigkeiten, Kenntnissen und Einstellungen und die Schaffung einer Kultur des “Civic Futurism”, die junge Menschen auffordert, zu erfinden und zu rekonstruieren, im Mittelpunkt der Aufgabe steht. Die Auseinandersetzung mit diesen globalen thematischen Prioritäten und den Methoden, die am besten geeignet sind, sie anzugehen, sollte eine transatlantische Priorität sein.

Wie sollte ein Arbeitsfeld der Politischen Bildung aussehen?

In Deutschland gibt es eine Fülle von öffentlichen oder öffentlich geförderten koordinierenden Institutionen, wie die Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung, die Arbeitsgemeinschaft deutscher Bildungswerke (AdB), den Bundesausschuss für politische Bildung (bap) und viele weitere Fachverbände und Gremien. Im Vergleich, nimmt der Aufbau des Feldes in den USA erst langsam Gestalt an. Obwohl ein Mangel an ausreichenden Mitteln, der zu einem höheren intra-organisatorischen Wettbewerb führt (Arthurs, 2016, S. 146) und parteipolitische Spannungen schwer zu überwinden sind, hat die Dynamik bisher zu einem multidisziplinären, parteiübergreifenden und sektorübergreifenden Ansatz geführt, um eine breite Palette von Organisationen in die Diskussion einzubinden, und zwar durch relativ neue Dachorganisationen wie CivXNow, die traditionelle Organisationen der Jugendarbeit wie die Girl Scouts of America und den YMCA mit auf Civics fokussierten Non-Profit-Organisationen wie Generation Citizen, schulischen nationalen Bildungsorganisationen wie Facing History and Ourselves und sogar Interessenvertretungs- und Mediengruppen zusammenbringt. Die theoretisch und praktisch unterschiedlichen Praktiken der Demokratiepädagogik/bildung und der politischen Bildung in Deutschland werden in den USA nicht getrennt betrachtet — sondern mit einem “democracy in action”-Ansatz, der sich durch die “proven practices of civic learning” (Gould, 2011, S. 33) ausdefiniert.

Diese angehenden koordinierenden Organisationen können sich an der gut ausgebauten Infrastruktur und den vergleichsweise gut anerkannten Berufsfeldern in Deutschland orientieren, mit einem gut ausgebauten Netzwerk von Berufsverbänden, Fortbildungs- und Vernetzungsmöglichkeiten, verschiedenen Akteuren der Jugendforschung und der Praxisforschung (DJI, Lehrstühle, Ray), sowie Fachzeitschriften und Verlagen. Ein kartiertes Ökosystem (Topografie der Praxis, o.J.) und ein ausgeprägtes Selbstverständnis der verschiedenen Sektoren, die die politische Bildung “berühren” (OKJA, internationale Jugendarbeit, Extremismusprävention, Sozialarbeit usw.), lassen Raum für die Ausarbeitung einzigartiger Angebote. Aber auch wenn die amerikanischen Dachverbände nicht die Langlebigkeit und die Investitionen ihrer deutschen Pendants haben, bietet der vielfältige, sektorübergreifende Ansatz eine Flexibilität und Innovation, die die oft siloartigen Strukturen im deutschen Ökosystem der Jugendarbeit und außerschulischen politischen Bildung befruchten können. Das vielschichtige, institutionalisierte und oft strikte Selbstverständnis der verschiedenen Sektoren und Disziplinen[10] kann jedoch dazu führen, dass Möglichkeiten der Zusammenarbeit, Themen und Praxis verpasst werden und potenzielle Partner ausgeschlossen werden. Vielleicht könnte eine stärkere Betonung der Einbeziehung dieser anderen Sektoren in die traditionellen Bereiche der politischen Bildung die Innovation fördern und das Profil der politischen Bildung als Ziel in anderen Kreisen schärfen. Dieser mehrgleisige Ansatz ist nicht völlig abwesend, wie wir am Projekt Respekt Coaches sehen (Respekt Coaches, o.J.), das Sozialarbeit, politische Bildung und Schulen zusammenbringt, aber es könnte mehr getan werden, um diese sektorübergreifenden Kooperationen auszuweiten. Ein weg dazu sind die auf europäischer Ebene vielfach beschworenen Kompetenzrahmen, oder auch die „Human Rights based approaches“ i.S: einer menschenrechtsbasierten Jugend- und Bildungsarbeit. Diese helfen sektorübergreifende Ansätze zu entwickeln.

Ein weiteres wichtiges Merkmal eines professionalisierten Feldes ist die Fähigkeit, für seine Interessen einzutreten. In den USA ist dieser Fokus auf politische Interessenvertretung oft sogar auf der Ebene der einzelnen Organisationen offensichtlich. Angesichts des Mangels an staatlicher Finanzierung und Institutionen übernimmt das professionelle Feld eine größere Rolle als Fürsprecher für politische Veränderungen und “Markenbildung” bei den Interessengruppen. Natürlich reduziert die umfangreichere Rolle des Staates in den Strukturen für politische Bildung in Deutschland und eine engere Verbindung der zivilgesellschaftlichen Organisationen mit der Regierung die Notwendigkeit der professionellen Organisationen, so viel Energie in die Lobbyarbeit zu investieren, oder verändert sie zumindest, da es u.a. aus dem Selbstverständnis heraus einfach vergleichsweise weniger Bedarf an strategischer advocacy Arbeit gibt, um Lobbyarbeit für Finanzierung und Politik zu betreiben. Wie wir jedoch im Zuge der COVID-19-Restriktionen gesehen haben, die Bildungsorganisationen existenziell bedroht haben, erfordert die Notwendigkeit, beim Gesetzgeber für finanzielle Unterstützung zu lobbyieren und damit auch die Anerkennung der Wichtigkeit der Arbeit zu erhöhen, Know-how und Informationen seitens der zivilgesellschaftlichen Akteure, die eine Stärkung gebrauchen könnten. Hier hat das Feld in Deutschland Lernbedarf.

Ein starkes Selbstverständnis und eine sektorale Organisation der verschiedenen Zweige der Jugendarbeit, der politischen Bildung und der Bürgerbeteiligung können zu klaren Handlungslinien in einem pluralistischen Ökosystem beitragen. Verbesserte Mechanismen der Zusammenarbeit über Sektoren hinweg und eine Offenheit für nicht-traditionelle Organisationen würden jedoch helfen, Innovationen zu fördern, wie es beispielsweise in der Europäischen Agenda für Jugendarbeit gefordert wird. Es gibt viel Raum für weitere Diskussionen über die Vorzüge jedes Ansatzes, da der Bereich der politischen Bildung zunehmend unter Druck gerät, bei der “Lösung” gesellschaftlicher Herausforderungen zu helfen. Die Investition in ein konsolidiertes und dennoch vielfältiges Feld von Fachleuten, die in der Lage sind, erfolgreich für kollektive und jeweilige Bedürfnisse einzutreten, ist entscheidend, um diese zunehmende Anerkennung zu überstehen, verbunden mit der klaren Aussage, dass politische Bildung keine schnelle Lösung sein darf, sondern ein langfristiges Engagement zur Entwicklung demokratischer Kompetenzen sein muss.

Wie sieht politische Bildung in zunehmend polarisierten Gesellschaften aus?

Politische Bildung ist nur ein Tropfen in einem viel größeren metaphorischen Eimer, wenn es um die Überwindung sozialer und politischer Gräben geht, aber sie ist ein Instrument, um die gesellschaftliche Polarisierung zu reduzieren, zum Beispiel durch digitale und mediale Bildung, um Desinformation und Verschwörungstheorien zu bekämpfen, Toleranz für Vielfalt zu fördern, “group think” herauszufordern und kritisches Denken zu ermöglichen, kontroverse Themen zu diskutieren und sich mit Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen auseinanderzusetzen. Es ist wichtig, dass wir dies aus einer internationalen Perspektive betrachten, da wir sehen, wie Verschwörungstheorien und Rechtsextremismus sowohl in den USA als auch in Deutschland Fuß fassen, was zu einem politischen Klima führt, das zwei verschiedene — oftmals diametrale — Versionen der Wahrheit fordert. Es gibt eine breite, parteiübergreifende Unterstützung für politische Bildung als Teil der Lösung für die Bewältigung gesellschaftlicher Spaltungen, aber ideologische Polarisierung innerhalb des Feldes und Angriffe auf die politische Bildung und ihre Akteure im Zusammenhang mit der Neutralität stellen erhebliche Hürden dar.

Bildung in den USA ist weitgehend politisiert, und die enge und oft ideologisch konservative Auffassung von Staatsbürgerschaft, die in vielen aktuellen Bemühungen um Demokratieerziehung eingebettet ist, spiegelt weder willkürliche Entscheidungen noch pädagogische Beschränkungen wider, sondern eher politische Entscheidungen mit politischen Konsequenzen (Westheimer & Kahne, 2004a, S. 241). Ideologische Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Feldes in den USA entstehen zwischen Konservativen, die dazu neigen, politische Bildung als ein Mittel zu sehen, um außergewöhnliche demokratische Traditionen zu betonen, um Liebe und Stolz für das Land einzuimpfen, und Liberalen, die es aus einer sozial-gerechten und emanzipatorischen Linse heraus sehen. Es besteht eine bedeutende Debatte in Diskussionen über den besten Ansatz, den man wählen sollte. Diese Meinungsverschiedenheiten erinnern an die Situation, in der sich die deutsche politische Bildung in den 1970er Jahren befand, bevor die im Beutelsbacher Konsens niedergelegten Prinzipien dazu beitrugen, die Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen und eine gemeinsame Grundlage für die Praxis zu schaffen. Die aktuellen Meinungsverschiedenheiten in den USA sind komplex und wahrscheinlich unüberwindbar — schließlich sind Meinungsverschiedenheiten in der Demokratie eine Selbstverständlichkeit -, aber die Fähigkeit, sich auf eine gemeinsame Basis zu einigen, ist ein lohnendes Ziel und sollte ein gemeinsamer Anspruch sein. Die Betonung der Zusammenarbeit von Geldgebern und Foren für den Austausch auf überorganisatorischer Ebene können dazu beitragen, diese Differenzen zu mildern. Natürlich ist auch der Druck von außen auf die politische Bildung, eine bestimmte Sichtweise zu vertreten, bemerkenswert, was besonders gut durch die Einrichtung einer patriotischen Bildungskommission durch den ehemaligen Präsidenten Trump als Reaktion auf die zunehmenden Bemühungen von Projekten wie dem “1619 Project” der New York Times, eine detailliertere und nuanciertere Geschichte der amerikanischen Geschichte zu erzählen, einschließlich der schwierigen Geschichte rund um die Sklaverei und den Völkermord an den Native Americans, erfasst wurde. Diese Kommission wurde von der Biden-Administration bereits abgeschafft, aber das Ausmaß der Polarisierung in den USA bedeutet, dass Debatten darüber, was Indoktrination ausmacht, allgegenwärtig sind.

In Deutschland hat die theoretische Grundlage des Beutelsbacher Konsens die politische Bildung nicht immun gemacht gegen ähnliche Angriffe. Diese kommen zumeist aus der AfD die den Vorwurf formuliert, dass die Angebote parteiisch seien, was viele Einrichtungen der politischen Bildung in die Defensive brachte. Das Feld selbst hat mit einer klaren und starken Aussage reagiert, dass politische Bildung nicht neutral ist und es auch nicht sein will — sie fördert “Gleichheit, Pluralismus, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Minderheitenschutz” (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2020, S. 9). Der Zusammenschluss um dieses Prinzip ist wertvoll, um Grenzen zu setzen, was angemessen ist und was nicht — zumal in einer Zeit, in der diese Grenzen verschwimmen, aber es erfordert Training und Unterstützung bei der tatsächlichen Umsetzung. Insbesondere angesichts des heutigen politischen Klimas ist der Austausch über den Umgang mit diesen externen Bedrohungen und internen Spaltungen als Feld und als einzelne Praktiker umso relevanter.

Wie können wir die Effektivität verbessern und den Wert nachweisen?

Die Evaluierung der Wirkung von politischen Bildungsprogrammen ist eine wichtige zeitliche und finanzielle Investition in die Qualitätssicherung und die Verbesserung der Anerkennung des Wertes. Allerdings ist die Forschung zu politischer Bildung, insbesondere zu langfristigen Wirkungen, begrenzt — das gilt sowohl für die USA als auch für Deutschland. Die Literatur, die es gibt, ist in den nationalen Diskursen isoliert, was größtenteils auf Sprachbarrieren zurückzuführen ist, aber auch einfach auf den begrenzten Austausch zu diesem Thema im transatlantischen Raum. Bemerkenswert ist, dass es in beiden Ländern unterschiedliche Grade der Betonung und des Widerstands gegen eine zunehmende Aufmerksamkeit für Evaluation gibt, wobei die USA einen viel größeren Fokus auf empirische Evaluation legen (dies gilt allgemein für die US-amerikanischen Erziehungswissenschaften, während Deutschland eher einen theoretischen Ansatz verfolgt) (Helmut, 1994, S. 3).

Die langjährige Abhängigkeit von relativ üppiger staatlicher Finanzierung und politischer Unterstützung hat dazu geführt, dass viele deutsche Organisationen von der Verpflichtung verschont geblieben sind, ihren “Wert” oder “Nutzen” gegenüber den Geldgebern zu beweisen. Obwohl der Fokus auf die Evaluierung von Aktivitäten im Zusammenhang mit der Finanzierung zunimmt, geht sie selten über Evaluierungsformulare für Teilnehmer nach einer Veranstaltung hinaus. Ein gewisses Unbehagen mit Evaluation auf der Basis der Kernprinzipien der non-formalen Bildung ist offensichtlich. Eine fehlende Verbindung zwischen Praxis, Wissenschaft/Forschung auf der einen Seite und politischen Entscheidungsträgern verschärft das Problem. Es gibt viele Akteure in jedem Bereich und auf allen Ebenen, aber die Verbindung ist unstrukturiert, und eine konsistente, formale sektorübergreifende Kommunikation ist begrenzt. Darüber hinaus ist der Forschungsbereich für außerschulische politische Bildung über akademische Disziplinen verteilt: Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Politikdidaktik (die sich mehr mit politischer Bildung in Schulen befasst) und in geringerem Maße auch Sozialwissenschaft, Psychologie, Geschichte und Philosophie. Das soll nicht heißen, dass es keine Forschung gibt, insbesondere im Vergleich zu anderen Ländern, in denen das Feld insgesamt nicht vorhanden oder schwach ist, sondern nur, dass die Forschung, insbesondere die empirische, im Vergleich zur Größe des Feldes in Deutschland ausbaufähig ist.

Im Gegensatz dazu ist in den USA die Investition in Forschung und Evaluation ein primäres Ziel für Geldgeber, politische Entscheidungsträger und NGOs, nicht nur um die Legitimität und Unterstützung von Interessenvertretern zu erhöhen, sondern auch um die Programmgestaltung an den Ergebnissen auszurichten und die Gesamtqualität zu verbessern. Anstatt darauf zu drängen, die Ergebnisse der politischen Bildung von der Messung und Evaluierung zu trennen, besteht zudem die Bereitschaft, sich an die Forschung zu extern relevanten Ergebnissen anzulehnen, wie z. B. die Auswirkungen auf akademische und berufliche Ergebnisse und sogar den Business Case für politische Bildung (U.S. Chamber of Commerce Foundation, 2019). Die Anerkennung dieser scheinbar sachfremden Ergebnisse kann dazu beitragen, die Unterstützung anderer Sektoren und Entscheidungsträger zu nutzen, obwohl es Argumente dafür gibt, dass es das moralische Argument, dass es Investitionen auf der Grundlage demokratischer Normen und Menschenrechte verdient, einbüßt und — überspitzt bezeichnet — zu Fokussierung, Standardisierung und zu Formalisierung von Lernergebnissen führt.

Alternative und zunehmend populäre Modelle, wie z.B. Kompetenzrahmen, die sich auf kompetenzbasiertes Lernen (auch bekannt als „proficiency-based“ oder „performance-based learning“) konzentrieren, verdienen hier ebenfalls einen Platz als Teil dieser Diskussion über Programmqualität und -ergebnisse. In Europa und den USA erhalten Kompetenzrahmen im Bereich der Jugendarbeit und der nicht-formalen Bildung Aufmerksamkeit als Mittel, um die Wirkung des Feldes besser anzuerkennen und die Qualität der Angebote zu verbessern. In den letzten Jahren ist eine Fülle von Modellen entstanden, die von der Entrepreneurship Education über die Erwachsenenbildung bis zur digitalen Jugendarbeit reichen. Diese Rahmenwerke definieren, was verschiedene Sektoren als notwendige Kompetenzen ansehen und brechen diese oft in spezifische und nachweisbare Lernziele herunter. Sie sind oft für den Einsatz in der beruflichen Weiterbildung gedacht, helfen aber auch den Lernenden als Teil des Lernprozesses selbst. Kompetenzrahmen legen nicht fest, wie die Lernergebnisse zu erreichen sind, sondern bieten vielmehr ein Instrument, um damit verbundene Ziele zu erkennen und zu diskutieren und die darauf basierende Programmierung zu steuern. Diese Rahmen können besonders nützlich sein, wenn es um die Anerkennung von Lernprozessen geht, die sektorübergreifend — informal, non-formal und formal — stattfinden, da sie es den Akteuren ermöglichen, über die Unterschiede in der Umsetzung hinaus zu schauen und sich auf die jeweiligen Stärken bei der Arbeit an übergreifenden, gemeinsamen Zielen zu konzentrieren. Sie können den Lernenden auch dabei helfen, die Verbindung zwischen dem Lernen, das informell stattfindet, und dem Lernen, das in anderen Arenen wie dem Klassenzimmer stattfindet (vernetztes Lernen), herzustellen. Sicherlich sind sie auch ein Ausgangspunkt für die Entwicklung von Indikatoren, anhand derer Programme und individuelle Ergebnisse evaluiert werden können, obwohl dies nicht unumstritten ist. Eine viel umfassendere Diskussion über die Vorzüge und Herausforderungen, die mit kompetenzbasiertem Lernen und damit verbundenen Trends wie „Digital Badges“ verbunden sind, wäre sinnvoll.

Die COVID-19-Pandemie und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Auswirkungen haben zu einer Neuordnung von Grundüberzeugungen und gesellschaftlichen Werten geführt. Obwohl die Unterstützung für den Bereich der politischen Bildung in Deutschland während der Krise relativ stark geblieben ist, hat diese Erfahrung auch als Momentaufnahme gezeigt, wie wichtig es ist, sich ihres gesellschaftlichen Werts zu vergewissern und diesen weiterhin zu demonstrieren. Sicherlich wissen diejenigen, die in diesem Bereich tätig sind, dass er eine wichtige Rolle für das gesellschaftliche und individuelle Prosperität spielt (obwohl er nur ein Teil der Lösung ist), aber Außenstehende stellen diese Verbindung vielleicht nicht her oder sehen sie nicht als Priorität an. Darüber hinaus kann eine stärkere empirische Fundierung die Innovation fördern und Pädagog*innen dabei helfen, Ansätze auszuwählen/ Projekte auf der Grundlage der beabsichtigten Ergebnisse zu gestalten. Strategien für die Evaluation müssen von der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und den Geldgebern gemeinsam entwickelt werden, und Praktiker der politischen Bildung sind besonders gut geeignet, hier die Initiative zu ergreifen. Die gemeinsame Arbeit an der Beantwortung von Fragen, wie z. B. die Bewertung schwer messbarer zivilgesellschaftlicher Variablen, die beste Art der Wertkommunikation und die engere Zusammenarbeit mit der Wissenschaft, wird für die weitere Entwicklung des Feldes von entscheidender Bedeutung sein, und zwei divergierende Ansätze würden viel Stoff zum Nachdenken bieten.

[1] Eine kürzlich durchgeführte Umfrage in den USA zeigte, dass politische Bildung weithin als die Lösung angesehen wird, die die positivste und sinnvollste Auswirkung auf die Stärkung der amerikanischen Identität über Parteigrenzen hinweg haben würde, und eine Reihe von Gesetzesentwürfen wurden auf staatlicher und nationaler Ebene eingebracht

[2] Im Haushalt 2021 des BMFSFJ wurden 2 Mio. € für den Aufbau eines deutsch-amerikanischen Jugendbüros nach dem Vorbild der bilateralen Jugendwerke, die Deutschland bereits mit anderen Ländern wie Frankreich, Israel, Polen etc. unterhält, eingestellt.

[3] Beispiele sind ein Gesetz und ein Treuhandfonds des Bundesstaates Massachusetts aus dem Jahr 2018, welche die Durchführung von bürgerschaftlichen Aktionsprojekten mit Unterstützung von Gemeinschaftsorganisationen vorschreiben, sowie ein Gesetzesvorschlag auf Bundesebene, der Educating for Democracy Act, der Zuschüsse für gemeinnützige Organisationen vorsieht. Siehe auch Bericht 2019, “From Civic Education to a Civic Learning Ecosystem.

[4] Definiert als Arbeit, um einen Unterschied im bürgerlichen Leben unserer Gemeinden zu machen und die Kombination von Wissen, Fähigkeiten, Werten und Motivation zu entwickeln, um diesen Unterschied zu machen. Es bedeutet, die Lebensqualität in einer Gemeinschaft zu fördern, sowohl durch politische als auch durch nicht-politische Prozesse (Hoekema & Ehrlich, 2000)

[5] Definiert als an der Schnittstelle von Jugendarbeit und politischer Bildung als ein mehrstufiger Prozess zur Identifizierung von Schlüsselthemen in ihren eigenen Gemeinden, zur Durchführung von Recherchen, zur Entwicklung von Strategien und zur Durchführung von Aktionen, während gleichzeitig das notwendige politische und “civic” Wissen vermittelt wird, um effektiv zu sein (Gingold, 2013)

[6] Begriff, der Co-Creation als eine Form der direkten Jugendarbeitspraxis beschreibt, die Jugendliche dazu einlädt, sich aktiv als Bürger in ihre Gemeinschaften einzubringen, indem sie mit Jugendbetreuer*innen zusammenarbeiten, um sichere Räume für Bürgerbeteiligung zu schaffen und zu erhalten (Roholt et al., 2013).

[7] Definiert als eine innovative Strategie für Jugendentwicklung und soziale Gerechtigkeit, die junge Menschen in Community Organizing und Advocacy ausbildet und sie dabei unterstützt, diese Fähigkeiten einzusetzen, um sinnvolle institutionelle und soziale Veränderungen in ihren Gemeinden zu schaffen (Funders Collaborative on Youth Organizing, n.d.)

[8] Diese Idee kennzeichnete die “Reeducation” der US-Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg (Gerund, n.d.).

[9] Viele Bildungsstandards für “Civic Education” konzentrieren sich fast ausschließlich auf patriotische Observanzen (Torney-Purta & Lopez, 2006, zitiert in Mirra & Garcia, 2017), und Schüler beschäftigen sich in ihren Sozialkunde- und Civics-Kursen mehr als doppelt so häufig mit großen amerikanischen Helden und den Tugenden der amerikanischen Regierungsform (Lopez & Kirby, 2007, zitiert in Mirra & Garcia, 2017) als mit den Problemen des Landes.

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Katja Greeson

Transatlanticist | Youth civic education & engagement | German Chancellor Fellow 2019/20